DGV-Tagung 2007

Tagungsthema

Streitfragen – Zum Verhältnis von empirischer Forschung und ethnologischer Theoriebildung am Anfang des 21. Jahrhunderts

Der Streit zwischen einer interpretativen und einer erklärenden, Hypothesen überprüfenden Ethnologie wurde, wie alle Debatten dieser Reichweite, nicht wirklich beigelegt. Er ist eher im Sand verlaufen und wurde von einer Abfolge so genannter turns (linguistic turn, literary turn, cultural turn, iconic turn) und entsprechenden Gegenbewegungen überschrieben. Auch die Aufregungen über postmoderne Ansätze haben sich gelegt, ohne dass man ohne weiteres ein Ergebnis benennen könnte. Die verschiedenen Adjektive – interpretativ, positivistisch, konstruktivistisch, postmodern – sind zu wechselseitigen Pauschalverurteilungen ohne viel Sachkenntnis und Differenzierungsbereitschaft verkommen.

Allerdings schwelen kleinere Konflikte unter der Oberfläche weiter. Viele drehen sich um die Frage, ob ein repräsentatives oder ein performatives Idiom bevorzugt wird. Und wenn es hart auf hart geht – also um Forschungsgelder, Stellenbesetzungen und Qualifikationszeugnisse –, lugt die unveränderte Grundsatzfrage nach der Gültigkeit ethnologischer Aussagen hervor. Doch über die Kriterien zur Beantwortung dieser Frage besteht weiterhin keine Einigkeit. Müssen ethnologische Aussagen falsifizierbar sein? Wenn ja: was heißt das genau? Es lohnt sich, in der vermutlich nie ganz abschließbaren Grundsatzdiskussion über das Verhältnis von empirischer Forschung und ethnologischer Theoriebildung von Zeit zu Zeit den Stand der Debatte zu ermitteln, um danach fruchtbarer weiter streiten zu können. Dafür gibt es gegenwärtig mehrere Anlässe.

1. Während sich die Ethnologie zumindest in einigen ihrer Varianten zur Speerspitze reflexiverSelbstthematisierung hochgearbeitet hat, ist ihr ein Teil der alten Autorität abhanden gekommen. Auch wenn die Auflösung der alten Autorität als ein spezifischer Erfolg der letzten Jahrzehnte gelten darf, erscheint es vielen bedauerlich, dass die Ethnologie hierzulande bei kaum einer öffentlichen Streitfrage als zuständige Instanz befragt wird. Während die Achtung vor den Selbstdarstellungen der untersuchten Kulturen und Gesellschaften erfolgreich erhöht werden konnte, nahm der Mut zur Formulierung solcher Einsichten ab, die innerhalb dieser Kulturen und Gesellschaften versperrt bleiben. Während die Zweifel an der Überlegenheit der westlichen Lebensformen stiegen und sich radikalisierten, sank die Neigung, das Wissen anderer Gesellschaften ethnologisch zu analysieren, sofern damit ein Unterschied der Erkenntnisfähigkeiten und eine Hierarchie der Ontologien impliziert wird. Was bedeuten diese Entwicklungen? Mit welchen theoretischen Positionen hängen sie zusammen?

2. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Untersuchungsgegenstände der Ethnologie teilweise radikal verändert. Dies kann man nicht insgesamt der Tatsache zuschreiben, dass die Welt anders geworden ist und die Menschen, für die sich die Ethnologie herkömmlicher weise interessiert, anders leben. Vielmehr wendet sich die Ethnologie auch aus Eigeninteresse neuen Gegenstandsbereichen zu (z.B. Organisationsforschung, Wissenschafts- und Technikforschung). Wie hängt diese Umorientierung mit theoretischen Erwägungen, und wie hängen diese mit neuen Empirieformen zusammen (Aufwärtsforschen, multilokale Ethnographie, Ethnographie auf Distanz, Cyberanthropology)?

3. Gerade der durchschlagende Erfolg der Ethnologie in den siebziger und achtziger Jahren des 20ten Jahrhunderts (wie ihn u.a. Geertz feststellt) hat dazu geführt bzw. bestand darin, dass ihreethnographischen Methoden in den Nachbarwissenschaften aktiv aufgegriffen und dort weiter entwickelt wurden. In welcher Weise fließen diese Entwicklungen zurück in die Ethnologie? Welche Rolle spielt heute kulturelle Differenz für die ethnologische Methodologie? Welche Unterschiede gibt es zur ethnographischen Soziologie? Haben diese methodischen Unterschiede theoretische Folgen auch in der Ethnologie?

4. Der Anteil der Ethnologen, die sich aus der Perspektive ihrer eigenen Kultur mit anderen Kulturen beschäftigen, nimmt seit geraumer Zeit stetig ab. Weltweit gesehen forschen die meisten Ethnologen zu Hause. Gleichwohl bleibt der spezifisch ethnologische Perspektivismus oft ein zentrales Instrument der ethnologischen Arbeit. Wie verhält sich methodische Selbstbefremdung bei der Untersuchung der eigenen Kultur zu der herkömmlichen ethnologischen Fremdheitserfahrung?

5. Das Wissen um die eigene Lebensform wird zunehmend mehr als intellektuelles Eigentum von Gruppen verstanden, die einen Anspruch auf Selbstrepräsentation reklamieren. Die Ethnologie kann eine ihrer zentralen Legitimationen – den Stimmlosen eine Stimme zu geben – nicht mehr aufrechterhalten. Sie steht vielmehr unter dem Verdacht, die Rechte der von ihr untersuchten Menschen zu unterlaufen oder zumindest ohne entsprechende Gegenleistung davon zu profitieren. Sie gerät dank ihrer Neigung, die kollektiven Träger dieser Rechte als emergente Folgen der Rechte zu analysieren, in heikle Legitimationsschwierigkeiten.

6. Wie ihr Land lag die deutschsprachige Ethnologie 1945 in Schutt und Asche. In den rund 60 Jahren seit damals wurden erhebliche Energien darauf verwendet, amerikanische, englische, französische und andere Schulen der Ethnologien zu rezipieren. Es erscheint geboten, im Rahmen einer DGV-Tagung einmal die Frage aufzuwerfen: Was ist aus diesem Rezeptionsprozess eigentlich geworden? Inwieweit haben sich eigene deutsche Ansätze entwickelt und sind international wahrgenommen worden?

7. Welche Rolle spielen die laufenden Veränderungen der Forschungsförderung und der Universitätswettbewerbe, die Bemühungen um standardisierte Evaluationskriterien sowie der zunehmende Druck zur Publikation in amerikanischen Zeitschriften für die theoretisch-methodischen Positionierungen junger Ethnologinnen und Ethnologen im deutschsprachigen Raum?

Dies sind nur einige der groben Tendenzen, die eine Neupositionierung der Ethnologie am Anfang des 21. Jahrhunderts herausfordern. Es kann sein, dass es sich um einzelne, nicht zusammenhängende Tendenzen handelt. Es kann aber auch sein, dass diese Tendenzen um die eine große Veränderung konvergieren, die seit dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 und beschleunigt nach dem Fall der Twin Towers am 9 September 2001 eingesetzt hat. Es ist bisher kaum möglich, diese große Transformation vollständig zu begreifen. Man darf jedoch davon ausgehen, dass die Ethnologie auf keinen Fall unberührt bleibt.
Man darf sogar vermuten, dass die Ethnologie erst jetzt ihren Zug machen kann, der ihr während des gesamten 20. Jahrhunderts nicht gelungen ist. Es konnte ihr nicht gelingen, weil alle maßgeblichen Zuhörer überzeugt waren, dass die Vielfalt der Kulturen, die sich historisch halten wird, ausschließlich jene Bereiche meint, die am Ende nicht wirklich zählen und sich eben deshalb unter Toleranz und Multikulturalismus abbuchen lassen. Dagegen hat kaum jemand im Ernst daran gezweifelt, dass die westlichen Zitadellen Wissenschaft und Technik, Ökonomie, Recht und Demokratie einer kulturfreien Sphäre von Vernunft und Natur angehören, die sich nach und nach in der ganzen Welt zum Wohle der Welt verbreiten wird. Jetzt, wo diese Überzeugung untergegangen und zwei konträren und tiefsitzenden Ängsten – die Angst vor Globalisierung als Vereinheitlichungsmaschine und die Angst vor einer Fragmentierung der Welt – gewichen ist, hat die Ethnologie ihre späte historische Chance bekommen. Sie darf nun unter den neuen Bedingungen wieder von vorne anfangen mit ihrem Versuch zu beweisen, dass es andere Welten gibt.
Bei der DGV-Tagung im Oktober 2007 sollen Aspekte dieser Tendenzen in zwei Plenarveranstaltungen des üblichen Formats sowie in einer Plenarveranstaltung des Formats „Innovative Nachwuchswissenschaftler/innen“ diskutiert werden. Die Arbeits- und Regionalgruppen werden eingeladen, ihre Werkstätten an der Leitfrage auszurichten und sich diesmal ausnahmsweise auf Gastredner aus dem deutschsprachigen Raum zu konzentrieren.