DGV-Tagung 2017

Tagungsthema

Zugehörigkeiten: Affektive, moralische und politische Praxen in einer vernetzten Welt

In den mobilen, vernetzten und mediatisierten Gesellschaften des 21. Jahrhunderts sind Zugehörigkeiten vielschichtigen Dynamiken der Neuaushandlung unterworfen. Bindungen an gewohnte soziale und kulturelle Umgebungen, und damit an Gegenstände, Orte und Lebensweisen, formieren sich in Abhängigkeit von vorhandenen Ressourcen und politisch-rechtlichen Bedingungen neu. Die Intensivierung, Schwächung und Neuausbildung von Zugehörigkeiten ist des Weiteren eng mit den sozialen, ökonomischen und technologischen Diversifizierungsprozessen verbunden, die Menschen in einer globalisierten Welt (im Rahmen von Finanzkrisen, massenmedialen Hypes, gewaltsamen Konflikten etc.) mit multiplen Optionen aber auch Zwängen zur (Neu-)Verortung konfrontieren. Das affektive Erleben des eigenen Eingebunden- und Verbundenseins – sowie das Ringen und Wissen um diese Erfahrung – bildet damit ein zentrales Thema für viele Menschen unserer Gegenwart. Letztere ist weltweit durch Entgrenzungsprozesse, zunehmend poröse nationalstaatliche Grenzziehungen sowie das Kollabieren simplifizierender, postkolonialer Dichotomien (wie etwa zwischen „westlicher“ und „nicht-westlicher Welt“; „Globalem Süden“ und „Globalem Norden“) geprägt. Gleichzeitig lassen sich aber auch neue Formen der Abgrenzung und Exklusion – zum Beispiel im Zuge von Renationalisierungstendenzen und Separationsbewegungen – verzeichnen, die lokalisierte „Wir-Gefühle“ betonen und überregionale oder globale Verbundenheit explizit ablehnen.

Mit der DGV-Tagung 2017 wollen wir den Blick auf die vielfältigen affektiven, moralischen und politischen Resonanzen richten, die Menschen in einer vernetzten Welt zueinander in Beziehung setzen und sie gleichzeitig in ihrer materiellen und nicht-materiellen Umwelt verorten. Von Interesse sind die affektiven und moralischen Herausforderungen, die Menschen angesichts von Mobilität, Entwurzelung und der Akkumulation politisch-ökonomischer Notlagen – oft über ausgedehnte Zeiträume hinweg – erfahren und die zur Ausbildung neuer Orientierungen führen können. Ebenso wollen wir „ganz alltägliche“ Prozesse der Globalisierung und die darin enthaltenen Chancen zur Ausbildung neuer Bindungen in Abhängigkeit von Geschlecht, Alter, Ethnizität, Religion und sozialem Status in den Fokus rücken. Des Weiteren wollen wir beleuchten, mittels welcher Praktiken Individuen und Kollektive Zugehörigkeiten sowohl in lokalen Verdichtungen, als auch über nationale und kontinentale Grenzen hinaus (neu) herstellen – und welche Ausschlüsse sie in Bezug auf ihr Verbundensein (zu Personen und Orten, zu materiellen und nicht-materiellen Entitäten) erfahren. Der Blick auf die Handlungen und Erfahrungen von Akteurinnen und Akteuren soll den fluiden und oft widersprüchlichen Charakter von Zugehörigkeitskonstruktionen betonen und gleichzeitig Dynamiken sozialer Differenzierung und deren Einbettung in Machtstrukturen offenlegen.

Die Workshops der Tagung laden ein, über die folgenden Fragen nachzudenken: Wie entstehen im Kontext globaler und transnationaler Verflechtungen (teils miteinander konkurrierende) Zugehörigkeiten zu sozialen, kulturellen, religiösen oder wirtschaftlich definierten Kollektiven? Inwieweit ermöglichen weltweit zirkulierende Technologien und Wissensdiskurse neue Artikulationsformen von Zugehörigkeit (zum Beispiel im Bereich der Genetik und Reproduktionsmedizin). Wie werden soziale Bindungen über Grenzen und Kontinente hinweg aufrechterhalten, aber auch neu etabliert und welche Rolle spielen neue Medien- und Kommunikationstechnologien hierbei? Wie strukturieren die vielfältigen rechtlichen und normativ-ideologischen Ordnungen einer vernetzten Welt Dynamiken der Zugehörigkeit: welche Optionen eröffnen und welche Grenzen setzen sie? Wie wirken sich aktuelle politische und ökonomische Verflechtungsprozesse – die immer historisch situiert sind – auf die Ausbildung bzw. Bewertung von Zugehörigkeiten aus? In wie weit werden hierbei Zugehörigkeiten instrumentalisiert, zum Beispiel in Form von normativen Erinnerungspraxen? Welche Rolle spielen generell Materialität und materielle Kultur für das Herstellen von Bindungen und Artikulationen des Verbundenseins? Welche Ein- und Ausschlüsse werden durch die wachsende Verschärfung sozialer Gegensätze weltweit produziert, und welche (neuen) Formen des gesellschaftlichen und kulturellen (Nicht-)Verbundenseins entstehen oftmals im gleichen Zug?