12.2.2024

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Als Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie (DGSKA) beobachten wir mit großer Sorge, dass sich in Deutschland arbeitende Wissenschaftler:innen immer stärker in der Wahrnehmung ihrer Grundrechte der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit eingeschränkt sehen. Forschung und internationaler akademischer Austausch drohen umfassend beeinträchtigt zu werden, wenn unterschiedlich positionierte und international arbeitende Spitzenforscher:innen vermittelt bekommen, dass sie ihrer Arbeit in Deutschland nicht frei nachgehen oder öffentlich Stellung nehmen können.

Wir betonen die unbedingte Notwendigkeit, Antisemitismus, Rassismus, und Islamophobie in Deutschland und weltweit zu bekämpfen. Dies lässt sich jedoch nicht durch die Überwachung von Wissenschaftler:innen, ihrer wissenschaftlichen Arbeit und ihrer persönlichen Stellungnahmen erreichen, wie es nun in mehreren Fällen aus Deutschland, Österreich, und der Schweiz an uns herangetragen wurde. Wir beobachten mit Sorge, wie insbesondere Wissenschaftler:innen, die aus Diskussionskulturen im Ausland nach Deutschland kommen oder zeitlich befristete Stellen annehmen, um ihren Ruf fürchten müssen und sich in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt fühlen, wenn sie sich zum Israel/Palästina-Konflikt äußern. Auseinandersetzungen um den Israel/Palästina-Konflikt lassen sich nicht ausschließlich mit den Mitteln der Antisemitismustheorie oder -kritik einordnen. Es ist notwendig und legitim, historisch gewachsene, politische, religiöse, kulturelle, ökonomische, ethnische und nationalistische Konfliktdimensionen mit in den Blick zu nehmen und zu diskutieren. Die Ausgrenzung von Wissenschaftler:innen, die ihre im Grundgesetz verankerte Wissenschafts- und Meinungsfreiheit wahrnehmen, darf kein Mittel der Auseinandersetzung sein; vielmehr werden dadurch notwendige Debatten verhindert.

Angesichts von Terror, Krieg und Zerstörung in Israel/Palästina und unermesslichem Leid auf allen Seiten beobachten wir eine Zuspitzung von Stellungnahmen und öffentlichen Positionierungen. Dies betrifft in besonderem Maße international meinungsstark geführte Debatten auf Social-Media-Plattformen wie etwa Facebook und X (vormals Twitter). Diese Zuspitzungen können problematisch werden, wenn sie komplexe Diskussionen auf wenige Zeichen reduzieren und für verkürzende und tendenziöse Angriffe instrumentalisiert werden. Zunehmend formen plakative Beurteilungen gesellschaftlich komplexer Konfliktdynamiken und undifferenziert erhobene Vorwürfe von Antisemitismus den demokratischen Diskurs in der Öffentlichkeit und führen zu Gesprächsabbrüchen. Zu den Kernaufgaben von Universitäten, Forschungseinrichtungen und Kulturinstitutionen muss es gehören, schwierige Diskussionen in stark polarisierten gesellschaftlichen Momenten zu ermöglichen. Mit diesen Aufgaben verbunden ist die Verantwortung, sich gegen alle Formen von Antisemitismus, Rassismus und Islamophobie zu stellen, denn diese zerstören die Grundlagen demokratischen Zusammenlebens und Zusammenarbeitens. Wenn es Universitäten und Forschungseinrichtungen nicht gelingt, Diskussionsräume aufrechtzuerhalten und vorschnellen Verurteilungen etwas entgegenzusetzen, tragen sie dazu bei, das Vertrauen in demokratische Öffentlichkeiten zu beschädigen und spielen extremistischem Populismus in die Hände.

Wir sind tief besorgt über die Angriffe, denen renommierte und international angesehene Intellektuelle wie Masha Gessen und Ghassan Hage in Deutschland ausgesetzt sind. Als Sozial- und Kulturanthropolog:innen sind wir davon überzeugt, dass die akademische und zivilgesellschaftliche Debatte in Deutschland unterschiedliche Formen der Kooperation, der Diskussion und des Dissenses benötigt, um einen beständigen Perspektivwechsel zu ermöglichen und epistemische wie politische Gewissheiten herausfordern zu können. Wir rufen dazu auf, Universitäten und Forschungsinstitutionen als Diskussions- und Begegnungsräume zu erhalten, in denen Pluralität und Widerspruch willkommen sind und unterschiedliche, an Verständnis orientierte und sorgfältig begründete Standpunkte und Perspektiven entwickelt und kritisiert werden, um voneinander zu lernen.

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